Im Rahmen unserer aktuellen ZPTh-Debatte zum Thema „Temporalstrukturen des Ausnahmezustands“ antwortet heute Benjamin Schmid auf den Kommentar von Jonas Heller, der letzte Woche bei uns erschienen ist.
Jonas Heller hält Zweifel an dem in „Paradoxien der Ausnahmezeit“ unterbreiteten Konzept des Zögerns als alternativem Paradigma des Regierens und Regiert-Werdens für geboten. Als Gründe für seine Zweifel am Zögern nennt Heller einerseits, dass im Text problematische Prämissen Carl Schmitts reproduziert würden – dies insbesondere in der Deutung von Thomas Hobbes im ideengeschichtlichen Teil von „Paradoxien der Ausnahmezeit“ – und dass andererseits der Ausnahmezustand Eile und Weile sei. Das Zögern gehöre somit selbst dem Ausnahmezustand an und sei zu ihm daher kein alternatives Paradigma. Dies sei unter anderem daran zu erkennen, dass die den Ausnahmezustand kennzeichnende Suspension der Rechtsnormen dem lateinischen suspendere („in der Schwebe halten“) entstamme. Im Folgenden werden diese Punkte adressiert, um die Argumentation von „Paradoxien der Ausnahmezeit“ näher zu erläutern und eventuelle Missverständnisse auszuräumen.
Mehr als eine Frage der Geschwindigkeit
Beizupflichten ist Hellers Befund, „dass der Begriff der Souveränität impliziere, nicht entscheiden zu müssen,“ sondern dass sich – Heller verweist hier auf Niklas Luhmann – Souveränität in der Dichotomie von Entscheidung und Nichtentscheidung ausdrücke. Hiermit liegen die Argumentation des Kommentars und „Paradoxien der Ausnahmezeit“ ganz auf einer Linie. Denn wem nicht einmal die Möglichkeit zu zögern eigen ist, der ist den Fristen und Terminen anderer unterworfen. Souverän aber ist man derart nicht (vgl. S. 200). Beizupflichten ist Heller ferner in folgender Ansicht: dass „der Schlüssel zur richtigen Politik überhaupt in der Geschwindigkeit liegt – ob eilend oder zögernd – ist indes ein Vorurteil, dass dem Ausnahmedenken inhärent ist und von diesem nicht vorschnell übernommen werden sollte.“
Das Zögern, so wie es in „Paradoxien der Ausnahmezeit“ präsentiert wird, jedoch lediglich als eine Frage der Geschwindigkeit aufzufassen, wird ihm nicht gerecht. Es ist mehr als nur das Gegenstück zu Unterfangen, die Geschwindigkeit politischer Entscheidungsprozesse zu erhöhen (vgl. hierzu S. 198-199). Es ist die Frage nach Richtung und Ziel der Fahrt. Die Katastrophe besteht dagegen in der fortgesetzten Fahrt im Modus des Weiter-so (vgl. S. 196). Dergestalt ist eine der im Text erörterten Paradoxien des Ausnahmezustands, dass er in den Status zurückführt, der die ihn erzeugende Krise überhaupt erst hervorgebracht hat (vgl. S. 195). Das Lateinische suspendere bezeichnet in diesem Zusammenhang daher eben nicht nur, wie im Kommentar angeführt, ein in-der-Schwebe-Halten, sondern auch und noch mehr, einen Vorgang des Stützens: Die bestehende Ordnung soll gestützt werden (suspendere, „stützen“). Die Suspension wird somit ihrerseits der Logik des Ausnahmezustands zugehörig. Dem Zögern wiederum ist die schwebende Suspension mindestens ihrem Wortsinne nach nicht zugehörig. Nicht zugehörig ist sie aber auch ihrer nicht vorhandenen Eigenbewegung wegen. Suspendere ist ein der Innenarchitektonik entnommener Begriff. Ein in der Schwebe gehaltener Gegenstand soll an Ort und Stelle verbleiben. Der einmal emporgehobene, aufgehängte und somit suspendierte Kronleuchter hat zu bleiben, wo er ist (vgl. die Parallele zur Unbeweglichkeit von Melvilles Bartleby als Widerpart zum Zögernden, S. 199). Durchbrochen wird diese Logik hingegen durch das Zögern. Das Zögern stützt die bestehende Ordnung nicht lediglich ab. Es widersetzt sich dem Bestreben, die strukturellen Probleme zu reproduzieren, die jene Krise erst erzeugten, die den Ausnahmezustand nötig machten.
Der Ausnahmezustand als Beschleuniger
Wäre der Ausnahmezustand nicht nur Eile, sondern auch Weile, das Zögern würde ihm, wie Heller meint, eigen sein. Doch besitzt der Ausnahmezustand eine andere temporale Logik: Der Kommentar führt an, dass der „Ausnahmezustand nicht zwingend eine Beschleunigung unter dem Druck des Bestehenden bedeutet.“ Wäre dies der Fall, es gäbe die Notwendigkeit nicht, die dazu nötigt, die Regularien des Normalzustandes auszusetzen. Aber gerade das Außergewöhnliche des Ausnahmezustands macht diesen für das bestehende Regelwerk nicht fassbar – womit nicht verschwiegen werden soll, dass die den Ausnahmezustand legitimierende Krise auch konstruiert sein kann (vgl. S. 200) und „[dass sich] hinter der treuherzigen Versicherung, daß der Staat ‚leben‘ müsse, […] meist nur der rücksichtslose Wille, daß der Staat so leben müsse, wie es diejenigen für richtig halten, die sich der Rechtfertigung eines ‚Staatsnotrechts‘ bedienen [verberge].“ (Kelsen 2019, S. 378)
Hierzu gehört nun, dass der Ausnahmezustand Druck zur Entscheidung erzeugt, um die ihm zugrundeliegende Krise aufzulösen. Die Option, einer Entscheidung aus dem Weg zu gehen, ist der Logik des Ausnahmezustands wesensfremd, da diese Option die bestehende Ordnung nicht stützen, sondern – vermeintlich oder tatsächlich – gefährden würde (vgl. Gentili 2020, S. 41-43; Vogl 2015, S. 15-18). Nach Fahrtrichtung und -ziel wird dabei nicht gefragt. Die Fahrt erfolgt nunmehr auf Sicht (vgl. Schmid 2023, S. 15) und Entscheidungen sind in solcher Fahrt ad hoc zu treffen.
Nicht zuletzt ergibt sich dies aus der Geschichte politischen Denkens. In diesem Zusammenhang ist ein Missverständnis hinsichtlich der ideengeschichtlichen Genealogie, die „Paradoxien der Ausnahmezeit“ entwirft, auszuräumen: Die im Text vorgestellte Lesart des politischen Denkens von Thomas Hobbes folgt nicht aus der Lektüre Carl Schmitts, wie von Heller gemutmaßt. Sie ist mithin keine Rückprojektion Schmitt‘scher Prämissen auf Thomas Hobbes. Vielmehr folgt sie chronologisch aus der im Text erörterten Wurzel des Ausnahmezustands im Gnadenakt Gottes. Die Ausnahme von verdienter Strafe durch die Gnade Gottes und deren Diskussion bei Aurelius Augustinus, Thomas von Aquin und Dante Alighieri findet ihren Widerhall im unmittelbaren Begriffsvorfeld des Ausnahmezustands: in der exceptio, dem Ablassen von verdienter Strafe (vgl. S. 187-188). In der Übertragung dieser Letztentscheidung von Gott auf den Menschen beziehungsweise den menschengemachten Staat bei Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes am Beginn des politischen Denkens der Frühen Neuzeit können, so die Argumentation in „Paradoxien der Ausnahmezeit“, archetypisch die mit dem Ausnahmezustand verbundenen Paradoxien analysiert werden (vgl. S. 193). Ein wesentlicher Auslöser dieser Paradoxien besteht nun eben in dem bei Machiavelli wie Hobbes intendierten Stützen der bestehenden Ordnung: mantenere lo stato bei Machiavelli (vgl. S. 189); die Prävention des Bürgerkriegs bei Hobbes (vgl. S. 191-192). Dass es nicht schon Hobbes, sondern erst Carl Schmitt um den Erhalt des Staates ging, ist in Anbetracht etwa der im Frontispiz des Leviathan abgebildeten Pestärzte nicht überzeugend, die den Leviathan vor der Pest des Bürgerkrieges bewahren sollen. Ginge es Hobbes stattdessen, wie im Kommentar vermerkt, primär um den Selbsterhalt des Einzelnen und nur sekundär um den Erhalt des Staates, der Leviathan müsste nicht derart restriktiv in die Belange des Einzelnen eingreifen (Hobbes 1984, XVIII, S. 139-140 und XXIX-XXX, S. 245-256).
Just diese beständige Prävention des Untergangs des Staates beschleunigt und stärkt dadurch die Exekutive. Zwar können auch Parlamente schnell handeln, hierin ist Heller vollauf zuzustimmen. Aber die Legislative tut dies nicht zu ihren Gunsten. Denn ihr ist eine anders geartete Temporalität eigen, wie beispielsweise die Federalist Papers unterstreichen. Denn „in der Legislative ist das schnelle Tempo von Entscheidungen häufiger ein Übel als ein Gewinn“ (Hamilton/Madison/Jay 1994, 70. Artikel, S. 428). Deshalb ist Heller gleichsam darin zuzustimmen, dass die „Ausweitung (und Ausnutzung) exekutiver Handlungsspielräume auf Kosten der Parlamente“ erfolge, wie auch die politikwissenschaftliche Empirie jüngster Krisen betont (Rüb 2015, S. 207-209).
Die Vorzüge des Zögerns
Der beschleunigungsinduzierten Überforderung des an die Stelle des Allmächtigen getretenen Menschen und des menschengemachten Staates begegnet nun das Zögern als eine Form von „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Marquard 1995). Denn die Allmacht des Allmächtigen haben weder Mensch noch Staat geerbt (Marquard 1995, S. 80-81). Zögern ist daher nicht allein als ein alternatives Paradigma des Regierens zu verstehen. Es ist auch ein Paradigma des Regiert-Werdens: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet“ (Marquard 2004, S. 94). Denn die Erwartungshaltung an die Politik, Entscheidungen zu treffen, erzeugt ihrerseits in nicht unwesentlichem Maße Druck zur Entscheidung in der Politik. Dagegen lehrt uns unser aller Alltagserfahrung, dass wir eben nicht eilfertig entscheiden sollen. Entscheidungen seien gründlich zu überdenken, die Kosten und Folgen zu kalkulieren, sich eine zweite Meinung und Rat zu einer Diagnose einzuholen. Kurioserweise gilt dieses zögerliche Vorgehen für die Entscheidungen, die uns selbst betreffen, aber dann nicht mehr ohne weiteres für das, was uns alle betrifft, nämlich Politik und politische Entscheidungen als kollektiv verbindliche Entscheidungen.
Die Erwartungshaltung, dass Politik rasch handeln soll, ist verbunden mit einem fehlgeleiteten Verständnis dessen, was in Politik als schnell gelten kann. Getreu dem platonischen Laches ist nicht der Läufer schnell, der rasch aus den Startblöcken kam, sondern jener, der das Ziel in kurzer Zeit erreichte (Platon 2013, 192b, S. 43). Politisches Handeln ist solch teleologisches Handeln. In ihm sind Entscheidungen lediglich Wegmarken. Schnelligkeit in Politik kann daher nur aus der Zielperspektive heraus beurteilt werden. Ist das beabsichtigte Ziel noch nicht erreicht, kann eine Bewertung nicht erfolgen; ebenso wenig wie eine Entscheidung als Selbstzweck gelten kann; sie ist Mittel zum Zweck; ihr bloßes Treffen, das Verabschieden eines Gesetzes oder ähnliches, bedeutet lediglich, dass der Läufer unterwegs ist. Das Zögern offeriert eine unaufgeregte Reflektion über den politischen Lauf der Dinge. Diesem diskreten Charme des Zögerns scheint auch der Kommentator erlegen zu sein. Denn in seinem Zweifeln am Zögern hängt er dem Zögern selbst an.
Benjamin Schmid ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Politische Theorie der Universität der Bundeswehr München. Seine Dissertation „Politisches Denken und Architektur im Mittelalter“ erschien 2020 im Verlag Wilhelm Fink. Derzeit arbeitet er an seiner Habilitation „Eine Politik der Dauer – Zum Umgang mit veloziferischer Zeit“.